#9 J. Gienow-Hecht, R. Kindler, S. Middendorf - 1920er vs. 2020er in globaler Perspektive | 11.12.23

Sdílet
Vložit
  • čas přidán 10. 01. 2024
  • 1920er vs.2020er in globaler Perspektive - eine Vorlesung von Prof. Dr. Jessica Gienow-Hecht (SCRIPTS / John F. Kennedy Institut, FU Berlin), Prof. Dr. Robert Kindler (Osteuropa-Institut, FU Berlin) und Prof. Dr. Stefanie Middendorf (Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena) als Beitrag der SCRIPTS-Ringvorlesung "Kritik und Zukunft des liberalen Skripts. Zu den Ursachen der Auseinandersetzungen über und in liberalen Ordnungen."
    Prof. Gienow-Hecht analysiert in ihrem Vortrag die Herausforderung des liberalen Skriptes mit einem spezifischen Blick auf den nordamerikanische Kontext im Vergleich mit anderen liberaler Staaten. Wann und warum, so fragt sie, wurde die ideologische Verteidigung des Liberalen Skriptes gegenüber autoritären Herausforderungen Anliegen und Aufgabe staatlicher Regierungen? Ihre Antwort: Der Erste Weltkrieg mit seiner Gräuelpropaganda auf allen Seiten brachte einen Paradigmenwechsel, der jedoch unterschiedlich schnell umgesetzt wurde. Während liberale Regime in Europa in den 1920er Jahren sich umgehend als aktive Propagandisten liberaler Wertevorstellungen positionierten, blieb diese Strategie in den USA lange Zeit ungenutzt. Beobachter in den USA interpretierten das, was wir als “Contestations of the Liberal Script” verstehen, zunächst gar nicht als politische Herausforderung sondern (im internationalen Kontext) als alternative Modelle wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Modernisierung oder (im eigenen Land) als regionalspezifische Besonderheiten, für die die nationale Regierung nicht zuständig war.
    Prof. Kindler redet in seinem Beitrag über die Sowjetunion in den 1920er Jahren als permanente Herausforderung: Die kapitalistischen Gesellschaften des globalen Nordens sahen sich durch die Existenz der Sowjetunion im Kern herausgefordert. Den Bolschewiki war es gelungen - so hatte es zumindest den Anschein - eine Alternative zur dominanten Weltordnung zu schaffen, die potenziell die Stabilität etablierter Herrschaftsverhältnisse in Frage zu stellen vermochte. Dabei ging es nicht nur darum, ob sich die Arbeiter Europas und Nordamerikas um die Rote Fahne scharen und Revolutionen entfesseln würden, sondern auch um die Anziehungskraft des sowjetischen Projekts auf die kolonisierten Gesellschaften im globalen Süden. Das sowjetische Agieren der 1920er Jahre lässt sich deshalb auch nach der Abkehr vom Konzept der „permanenten Revolution“ als eine Politik der permanenten Herausforderung etablierter Ordnungsentwürfe begreifen.
    Prof. Middendorf analysiert in ihrem Beitrag, wie die Anrufung und Erfahrung dauernder Ausnahmezustände in den 1920er Jahren einerseits die bestehende Ordnung in europäischen Gesellschaften herausforderte, andererseits ein Modus wurde, um Krisen zu bewältigen. Das Regieren im Ausnahmezustand konnte dabei im Sinne einer antiliberalen Anfechtung der europäischen Moderne gedeutet und genutzt werden, war aber zugleich selbst ein Ergebnis der Geschichte dieser Moderne und Ausdruck liberaler Ordnungsentwürfe. Diese Widersprüche wurden dann nicht nur für den Aufstieg autoritärer oder diktatorischer Regime in den 1930er Jahren bedeutsam, sondern stellten Erfahrungen dar, die in späteren historischen Zeiträumen ebenso aktualisiert werden konnten wie gegenwärtig, in den 2020er Jahren.

Komentáře • 1